IRGENDWO VON 18 UHR BIS 22
Es ist sechs Uhrabends. Es wird schon dunkel, denn wir haben
Herbst. Die Stadt auf deren Marktplatz wir jetzt stehen, braucht keinen Namen zu haben,
es kann Bochum sein, Gelsenkirchen, Essen, Oberhausen irgendeine von den Stadten im
Revier. Auf dem Platz sind viele Stande aufgeschlagen. Man verkauft Wurst, Fettwaren,
Obst, Gemuse, Brot. Die Kaufer sind sehr zahlreich, es ist die Stunde vor dem Abendbrot.
Meist kaufen Arbeiterfrauen, fast immer sind sie von Kindern begleitet, sehr oft ist auch
der Mann dabei. Einkaufen gehort zu den Dingen, die halb den Sorgen, halb dem Vergnijgen
zugerechnet werden. Die Frauen haben gerunzelte Stirnen, sie scheinen geistesabwesend,
so sehr sind sie in die Betrachtung von Waren und Preisen vertieft. Viele bewegen die
Lippen, man kann ihnen vom Mund ablesen, dafi sie die Zahlen ausdrucken, mit denen
die Preise auf Pappschilder gezeichnet sind. Wenn sie kaufen, so geschieht das anfangs
zogernd, dann aber mit plotzlicher Hast, als miifiten sie schnell wieder nach Flause oder
als konnte eine andere ihnen zuvorkommen. Ganz merkwiirdig ist die Haltung einer Frau,
die auf einem Arm ihr Kind halt und am anderen Arm Pakete tragt. Der Arm, der urn das
Kind geschlungen, hat eine runde, weiche, zartliche Bewegung, die Hand liegt flach am
Korper des Kindes an, sanft, ausgespreizt, beschutzend. Der Arm, der die Pakete tragt,
hangt starr herunter, die Haltung ist steif und knochig wie ein durrer Ast, die Hand die den
Bugel derTasche umfafit, ist wie eine gierige Kralle, die Beute halt, Es ist, als gehorten die
beiden Arme ganz verschiedenen Frauen an. Zerrissen und zwiespaltig wie die Haltung ist
auch das Gesicht, das Gesicht einer mutterlichen Frau, entstellt durch Bitterkeit des harten,
viel zu harten Daseinskampfes. Die Manner bleiben meist Zuschauer. Oft sieht man eine
schone Freundlichkeit zwischen den Paaren, einen Mann, der die Markttasche tragt oder
das jungste Kind. Einen, der die Geldtasche zieht und ein Pfund Pflaumen kauft. Er reicht
die Munzen Stuck furStuck zwischen zwei Fingerspitzen seiner plumpen Hand. Ein anderer
Typ des Arbeiters tragt das Geld lose in derTasche, halt dem Verkaufer die Hand voll
Munzen hin, I a fit ihn selber sein Geld sich nehmen, weil es ihm schwerfallt, die kleinen
Geldstucke mit seinen steifen Fingern herauszuklauben. Es werden nur kleine Mengen
eingekauft, Tagesbedarf. Mit fallender Dunkelheit verschwinden die Gemusehandler, die
Schlachter und die Backer. Das Obst bleibt fur die feinere Kundschaft, die urn sieben Uhr
aus den Geschaften kommt. Folgen wir den Kaufern in eine der grofien Strafien, die vom
Markt ausgehen. Es ist eine breiteStrafie mitvielen Laden. Am Ende steht einegrofie Fabrik
AUS: HEINRICH HAUSER, SCHWARZES REVIER S. FISCHER VERLAG BERLIN 1929
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