GRAPHISCHE FEIERSTUNDEN
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Dichtun^en oline
den Dudistaben R
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jer noch nie etwas von biesem abwegigen
Kapitel ber Dichtkunst gehort hat, wirb viel-
leicht kopfschiittelnb fragen, ob es sich lohne,
ihm auch nur einen Augenblick Beachtung zu schenken,
Er wirb erstaunt sein, zu erfahren, baB ber Trieb,
Diditungen unter Vermeibung gewisser Buchstaben zu
verfassen, bis ins graue Altertum zuriick verfolgbar ist.
Schon im 6. Jahrhunbert v. Chr. hat ber Dithyramben-
bichter Lasos eine Hymne ohne ben Buchstaben S ge-
bichtet. Es mag eine Laune, eine Spielerei sein, unb
both verbient bie Beherrschung ber Sprache, bie notig
ist, um solche Kunststiicke hervorzubringen, unsere
Bewunberung nicht minber als bie Gebulb, bie auBer-
bem bazu gehort. Ober ist es etwa eine Kleinigkeit,
abgesehen von ber rein bichterischen Leistung, wie
Nestor von Laranba im 3. Jahrhunbert n. Chr. eine
,,Ilias" in griechischer Sprache zu schreiben, in beren
24 Gesangen jeweilig ein Buchstabe nach ber Reihen-
folge bes Alphabets vermieben ist? Ein anberer Sprach-
kiinstler bieser Art tritt uns im 17. Jahrhunbert in bem
Monch Carbone entgegen, von bem eine Dichtung fiber
bie Macht ber Liebe im Umfang von mehreren tausenb
Versen ohne Verwenbung bes Buchstabens R im Druck
erschienen ist. Auch in Deutschlanb hatte bie eigen-
artige Liebhaberei Anhanger unb Nachahmer gefunben.
Von bem Pastor Georg Miller, wahrscheinlich zu Augs
burg, gibt es ein 1592 in Ingolstabt gebrucktes Buch:
„Drey nutzliche unb christliche Prebigt: Die erste, auff
bas neue Jar ohne ben Buchstaben L. II. Auff bas
hohe F.est von alien Heiligen ohne bas R. III. Auff
ben 20. Sontag nach Trinitatis ohne bas R." Auch im
17. Jahrhunbert war biese Sprachspieierei an gleicher
Stelle im Gebrauch, wie bie Weihnachtsprebigt ohne R
bes Magisters unb Rektors Uhse beweist.
Das erste Beispiel ber Ubertragung in bie beutsche
Dichtung bietet ber Hamburger DichterBartholb Heinrich
Brockes, ber in einem Gebicht seines „Irbischen Ver-
gniigens in Gott" bie auf ein starkes Ungewitter er-
folgte Stille lautmalerisch burch r-lose Verse barstellt,
ein Versuch, von bem Wielanb schrieb, er beweise,
„baB unsere Sprache so hart nicht ist, als man ihr vor-
wirft; ober baB sie wenigstens einen LJberfluB an
weichen Wortern hat unb milbe genug ist, sich in sehr
sanfte Formen gieBen zu lassen". Der Dichter aber,
mit bessen Namen bie beutsche Dichtung ohne R
vorwiegenb verbunben wirb, heiBt Gottlob Wilhelm
Burmann (1737—1805). Er lieB 1788 „Gebichte ohne
ben Buchstaben R" erscheinen, von benen im Jahre 1795
eine zweite Auflage notig wurbe. Seine Absicht war,
bie beutsche Sprache in einem ganz weichen Dialekt
kennenlernen zu lassen, weil sie sich wirklich ganz
anbers ohne R als mit R mache. Daneben hat er seine
Gewanbtheit auch an kleinen Erzahlungen erprobt, in
benen noch anbern Buchstaben ber Garaus gemacht
wurbe. Wenn er glaubte, keine Nachahmer befiirchten
zu miissen, so gab ihm bie Zukunft in seinem eigent-
lichen Element, ber Lyrik, recht; auf bem Gebiet ber
Prosa aber fanb er einen Nachfolger, ber mit ebensoviel
Gesdiick als Erfolg ben schwierigen Stoff meisterte.
Im Jahre 1813 veroffentlichte ber Privatgelehrte
Dr. Franz Rittler gleich zwei Romane bieser Gattung
auf einmal: 1. „Lisette unb Wilhelm. Eine Erzahlung
ober Versuch, aus 44 aufgegebenen Worten eine
zusammenhangenbe Geschichte mit Vermeibung bes
Buchstabens R zu schreiben." 2. „Die Zwillinge. Ein
Versuch, aus 60 aufgegebenen Worten einen Roman
ohne R zu schreiben." Der Beifall, ben bie zweite
Erzahlung fanb, war so groB, baB sie zwei Jahre
spater neu aufgelegt werben mufite unb 1820 eine
britte Auflage erlebte, bie um eine Fortsetzung ,,Emma
unb Gustav von Falkenau" vermehrt war. Wenig
spater sehen wir auch Riickert im bichterischen Spiele
mit bem R. In seiner Uberselzung ber „Makamen
bes Hariri" (1826) tritt ein Mann auf, ber bas R nicht
aussprechen kann. Der Lanbpfleger will seine Bitte,
ihn in bie Heimat zu entlassen, nur erfiillen, wenn
er ein Bittgesuch einreicht, in bem ber seinem Munbe
versagte Buchstabe nicht vorkommt. Er verfaBt barauf
ein Gebicht ohne R. Dafi eine literarische Mobe wie
biese auch ihre Gegner gehabt hat, ist selbstverstanblich.
So lafit ber schwabische Epigrammatiker Haug 1805
bem Dichter auf seine Worte:
„Ich bichte nun, mein Herr,
seit zwanzig Wochen taglich
zwei Strophen ohne R.
Das ist unenblich schwer."
entgegnen
„Ich wollt, es war unmoglich."
Wenn in unsern Tagen Kunststiicke wie bie hier be-
sprochenen gelegentlich, z. B. burch Paul von Schonthan,
wieberauflebten, so sinb sie niemals mit bem Anspruch
auf ernstliche Beachtung wie ihre Vorgangerinnen
aufgetreten. Dr. Fritz Adolf Hiinich.
Monstrose Worte. Der bekannte Geschicht-
schreiber ber Chemie, Professor Dr. Edmund O. von
Lippmann, hat sich ber Miihe unterzogen, Wort-
ungeheuer zu sammeln, unb veroffentlicht nun in ber
„Zeits<hrift fiir angewanbte Chemie" eine Auslese.
Was soil man z. B. zu bem schonen Wort „Pflanzen-
faserverbaumwollung" sagen? Nicht minber schon ist
bas „Speisefettquellenbebiirfnis", vom „Lebergesunb-
blut" gar nicht zu reben. Zur Aufklarung sei erwahnt,
baB ber Schopfer bieses Wortungeheuers Blut aus
einer gesunben Leber meinte. Dariiber, ob mit bem
,,Partialantigentherapievertreter" ber Vertreter einer
Firma ober einer wissenschaftlichen Anschauung
gemeint ist, ober ob es sich um bie Vertreter einer
bestimmten Klasse von chemischen Korpern hanbelt,
wirb selbst bem Fachmann im ersten Augenblick nicht
klar sein. Jebenfalls kann es bieser herrliche Aus-
bruck bei weiterer Entwicklung mit bem langsten Wort
ber beutschen Sprache, bem „Geheimen Oberrechnungs-
kammerkassensubstitutensupernumerargehilfen", viel-
leicht schon in Balbe aufnehmen.
Das Enbe ber beutschen AuBenhanbels-
stellen fur Biicher. Die beutschen Biicher haben
auch im Inlanbe ben Weltmarktpreis erreicht unb
teilweise schon iiberschritten. Deshalb stellten bie
AuBenhanbelsstellen fiir Biicher unb Musikalien am
30. September bieses Jahres ihre Arbeit ein, unb bie
Ausfuhr literarischer unb musikalischer Werke ist vom
1. Oklober ab wieber abgabenfrei.
Herausgeber: Ernst Boehme in Berlin SW61.
Hauptschriftleiter unb veranlwortlich fiir ben rebaktionellen TeilIngenieur Rudolf Bar in Berlin-CharlottenburgLeipziger Schriftleitung
Wilhelm Eule in Leipzig. Verantwortlich fiir ben AnzeigenteilA. Messerschmidt in Berlin-Zehlenborf. Druck von Otto Gutsmann,
Breslau. Verlag: ,,Deutscher Buch- unb Steinbrucker Ernst Morgensterns Nachfolger Ernst Boehme, Berlin SW 61, Teltower Str. 32.
ZuschriftA werben nicht an Personen. sonbern an ben ..Deutschen Buch- unb Steinbrucker". Berlin SW 61. erbeten.