MITTEILUNGEN DES BUNDES DEUTSCHER GEBRAUCHSGRAPHIKER E.V.
SENSATIONSBEDÜRFNIS UND GEBRAUCHSGRAPHIK
BDG
S C H R I F T L E I T U N G DER B D G - M I T T E I L U N G E N DR. EBERHARD HÖLSCHER
G E S C H A FT S ST E L L E DER B U N D E S L E I T U N G BERLIN S W 48, W I L H E L M S T R. 37-38
TRAUGOTT SCHALCHER
Des Künstlers ArbeitsprozeB ist ein Kampf um
die Formgestaltung seiner Vorstellung. Das Werk
ist gelungen, wenn die Absicht des Künstlers Form
geworden ist. Es ist deshalb nicht verwunderlich,
sondern sogar fast selbstverstandlich, wenn ge-
rade den gröBten Kunstwerken gegenüber die
breite Masse versagt. Das Publikum will Sen
sation, der Künstler gibt sein künstlerisches Er-
lebnis. Mitunter hat der Künstler Glück und seine
Vision wird zur Sensation. Das Publikum ist nicht
wahlerisch, es nimmt die Kunst gem mit in Kauf,
wenn der Gegenstand der Kunst sein Sensations-
bedürfnis befriedigt.
Das Dilemma des Werbegraphikers wird stets
dieser Zwiespalt zwischen seiner Kunst und dem
Sensationsbedürfnis desPublikumsbleiben. Glück-
licherweise gibt es in der Werbung Aufgaben,
wobei sich der Künstler um das Sensationsbedürf
nis nicht zu kümmern braucht. Die Ausstattung
einer Jubilaumsschrift z. B. ist oft eine rein deko-
rative, representative,also graphisch-künstlerische
Aufgabe. Auch das Flaschenetikett für edle Er-
zeugnisse braucht nichts Sensationelles an sich zu
haben; es hat zu reprasentieren, nicht zu ver-
blüffen. Anders liegt der Fall beim Plakat, Inserat,
Prospekt usw., obwohl auch hierbei gelegentlich
Reprasentationspflichten hinzukommen. Aber die
Hauptaufgabe dieser WerbeniaBnahmen ist und
bleibt doch das Einhammern, das Anlocken, das
Animieren mit sensationellen Mitteln. Dabei ist,
was die Anwendung der Kunst betrifft, die Frage-
stellung von einst und jetzt auBerordentlich be-
zeichnend für die jeweiiige Situation. Früherfragte
man wohl noch: 1st die Kunst, die „hohe, die
himmlische Göttin", nicht zu schade dazu? Heute
fragt man schon: 1st die einstmals „tüchtige Kuh"
nicht ausgemolken? 1st das Photo nicht beweis-
kraftiger, schneller, popularer, verstandlicher?
Wenn man an die Sündflut photographischer
Werbebilder denkt, die das Reklamefeld über-
schwemmt, so muB man bekennen, dab die Kunst
vor diesem Ansturm schon sehr zurückgewichen ist.
Man kann darüber klagen, aber man kann es
nicht abstreiten, daB das Kunstbedürfnis auf der
ganzen Linie nicht etwa bloB in der Reklame
dem nackten Sensationsbedürfnis Platz gemacht
hat. Zwar sind die Augen noch hungriger als
früher, jedoch nicht nach Kunst, sondern nach
Sensation, nach dem Neuen, dem ganz Neuen,
dem Allerneuesten. Und dies Neue will man un-
vermittelt, nicht durch die Brille eines andern. Man
stel It keine Ansprüche an die Form, doch groBe
an die Deutlichkeit. Die Kunst erfordert vom Be-
trachter Kunstgefühl und Phantasie, das Photo
befriedigt die Neugier, die nichts als sehen will.
Es gibt allerdings auch künstlerische Photos. Den
schonen Photos geht es jedoch wie den schonen
Bildern. Nur eine Elite versteht sie zu würdigen,
die anderen sehen nur das Dargestellte Wie
v/ar es nun überhaupt möglich, daB die Kunst in
der Werbung eine so groBe Rolle spielen konnte?
Es gibt Leute genug, die diese Frage einfach
dahin beantworten, daB die Reklame eben früher
in den vielzitierten Kinderschuhen gesteckt habe,
daB diese Kunstbeflissenheit eine Art Kinder-
krankheit der Reklame gewesen sei, die man
66